Über Gudrun Barenbrocks Videoinstallation “Re:mixed” in Marburg 2022

Während der nächtlichen Fahrt auf einer 12-spurigen Stadtautobahn in Shanghai nimmt Gudrun Barenbrock ein Video für ihr Archiv auf: Auf der Stelzenautobahn fahrend, fliegen die Silhouetten der Gebäude zwischen den Hochhausschluchten als abstrakt werdende Formen vorbei. Am Tag als Betonbauten wahrgenommen, gewinnen sie nachts eine neue Ästhetik. Das Licht der Neonschriften zeichnet ihre kantigen Umrisse nach. Die Stadt wird zweidimensional und – in den Augen der Kölner Medienkünstlerin – zu einer „Leuchtzeichnungswelt“.

Für “Re:mixed (Marburg)” öffnet Gudrun Barenbrock ihren Archiv-Ordner „Stadt“. Eigene Videos und Fotografien kombiniert sie für die kontextspezifische Videoprojektion mit Bildern von Marburger Betonbauten der Fotografin Sara Förster und des Londoner Brutalismus von Susanne Saker. Erstmals integriert die Künstlerin damit auch Fotografien von anderen in ihre Videos. “Re:mixed” bringt diese unterschiedlichen Bildbestände, Zeitpunkte und Motive an der Fassade des Marburger Kunstvereins von April bis Mai 2022 in Bewegung. Durch Rekonfiguration und Modifikation der Aufnahmen legt “Re:mixed” Muster und visuelle Gefüge urbaner und architektonischer Ordnungen frei.

Seherfahrungen variierender Richtung und Geschwindigkeit fließen in eine knapp 19-minütige Videoprojektion auf 11 mal 31 Metern ein, die Betrachtende in Schwindel versetzen kann. Helle Flächen werden zu Weiß, dunkle zu Schwarz reduziert. Werte werden kontrastiert, Größen skaliert. Schnelle Bildfolgen wechseln mit rotierenden Ausschnitten. Wird die visuelle Reaktionsfähigkeit bewusst ausgereizt, ist die Mustererkennung gefordert: Strukturen, Fassadengliederungen, Ordnungen, Fahrbahnmarkierungen, Abweichungen, Fensterbänder, Rhythmen werden sichtbar. Aus Motiven werden Formen. Muster scheinen auf.

Verschieben sich diese Muster über- und ineinander, entsteht Unruhe, Irritation – die Fokussierung schlägt fehl. Re:mixed changiert zwischen Verstärkung und Auflösung von Formen.Werden Autos auf der Stadtautobahn für die Kamera zu schnell, verschwimmen sie in der Videoarbeit zu Lichtspuren. Massenmobilität in Bogota führt zum Stop-and-go im Stau. Die Aufnahme gerät wie die überlastete Fahrbahn in der Rush-Hour in Schwingung. Raster werden in der schnellen Abfolge von Aufnahmen des Marburger Bausystems als gliedernde Module der Architektur sichtbar. Wie ein Scannerschlitten suchen Bild ausschnitte Aufnahmen eines Flusses ab. Sie finden Blicke auf Liegestühle oder Frachtcontainer. Erst in Relation gesehen, werden diese Fragmente als Binnenschiffe auf dem Rhein bei Köln erkennbar. Diese Sequenzen folgen keiner linearen Narration. Vielmehr erzeugt Re:mixed visuelle Erzählweisen über repetitive Muster der Mobilität und Urbanität.

Gudrun Barenbrock .KLSP Marburg 2022. PHOTO Sara Foerster (1)
Gudrun Barenbrock .KLSP Marburg 2022. PHOTO Sara Foerster (2)
Gudrun Barenbrock .KLSP Marburg 2022. PHOTO Sara Foerster (3)
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Gudrun Barenbrock .KLSP Marburg 2022. PHOTO Sara Foerster (11)
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Gudrun Barenbrock .KLSP Marburg 2022. PHOTO Sara Foerster (16)
Gudrun Barenbrock .KLSP Marburg 2022. PHOTO Sara Foerster (17)
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.KUNST.LABOR.STADT.PLATZ Marburg 2022. Fotos: Sara Förster

Durch die Bearbeitung im Video verlieren die Aufnahmen von Straßen und Bauten an perspektivischer Tiefe. Die Bilder werden zu zweidimensionalen Zeichnungen erinnerter Architekturen. Re:mixed ist auch eine „konzeptuelle Arbeit über das Vergessen“, so Barenbrock. Als rationale Bauformen nach Idealen der Moderne konzipiert, sind viele Betonbauten inzwischen vom Verfall bedroht. Was als ungemütlich gilt und aus der öffent lichen Wahrnehmung gestrichen wird, hält die Künstlerin fest. Auch solche Motive archiviert sie in ihrer visuellen Datenbank von A bis Z auf zwei 4-Terabyte Festplatten.

Ergänzt durch kontextspezifische Architekturen und rekonfiguriert, generiert das Archiv in Re:mixed Varianz und neue Analysen: Gerasterte Beton elemente zeichnen sich genauso wie Verkehrsströme zwischen gegliederten Hochhäusern in ein Motiv- und Bewegungsarchiv ein. Zu Formen geworden, verschwimmen die Ortspezifika der Aufnahmen aus dem Dateiordner „Stadt“. Sie werden zu einer visuellen Studie über Geschwindigkeit und Rhythmen urbaner Strukturen und deren Varianz.

UNTERSTÜTZUNG

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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Celica Fitz ist Kunsthistorikerin und Religionswissenschaftlerin. Sie lebt in Marburg.
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Gudrun Barenbrock.de

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