Sehtexte von Hartung Trenz im Europäischen Kunstforum Schafhof Freising 2023 – 2024

Detlef Hartung und Georg Trenz sind „Schriftsetzer“, seit 1998 arbeiten sie mit typografisch gefassten Textsystemen als künstlerischem Material in großformatigen Projektionen in Innen- und Außenräumen. Jetzt zeigen sie im Schafhof Freising einen Rückblick auf 25 Jahre gemeinsame künstlerische Praxis. Das Ausstellungsprogramm umfasst Sehtexte in Form einer statischen Projektionsarbeit für den Garten, zwei Bewegtbild-Projektionen sowie eine Reihe von Werkdokumentationen in Video- und Fotoformaten, zu sehen vom 16. Dezember 2023 bis 4. Februar 2024.

In ihren Projektionen experimentieren Hartung Trenz mit Zeichen, Wort, Text und Form. Sie gestalten typografische Bildwerke, mal als stilles Bild, mal als bewegte Animation. In den meisten ihrer Texte fehlen Punkt und Komma, sie kommen ohne eindeutige Leserichtung aus. Inhalt und Sinn erschließen sich erst im Dialog von Textgewebe, Lichtverteilung und Projektionsfläche. Hartung Trenz sensibilisieren für die Verflechtungen von materieller, medialer und gedachter Realität. Sie provozieren das visuelle Bewusstsein. Sie laden dazu ein, das lineare Lesen um die Wahrnehmungsmodi des absichtslosen Betrachtens, des mäandernden Blicks oder des assoziierenden Entzifferns zu erweitern. Sie überlassen die relationale Zuordnung der Zeichen und die Lesbarkeit der Textsituationen der Aufmerksamkeit und dem Erfahrungshorizonts der Betrachtenden. Ihre Werke sind so angelegt, dass in den Augen der Anderen neue, radikal subjektive Ordnungen entstehen.
 

NARRACJE Danzig 2010. LICHTSTRÖME Koblenz 2012. LICHTROUTE Lüdenscheid 2013. FLUX Tunis 2015. LICHTUNGEN Hildesheim 2015. INTERFERENCE Tunis 2016. SEE DJERBA Houmt Souk 2017. RESPONSIVE Halifax 2017. COLLUMINA Köln 2018. INTERFERENCE Tunis 2018. GOLDSTÜCKE Gelsenkirchen 2022. Photos: Jennifer Braun, Hartung Trenz

Sie stehen in der Tradition der visuellen Poesie, in der Künstler_innen mit Form, Farbe, und Komposition Buchstaben, Begriffen und Texten experimentieren, um die poetische Erfahrung zu erweitern. Für Texte, die zum Lesen und zum Ansehen entwickelt wurden, prägte Ferdinand Kriwet (1942 – 2018) den Begriff der „Sehtexte“. Das Gedächtnis der Kunstgeschichte der visuellen Poesie reicht bis in das 19. Jahrhundert und beginnt mit den Schriftanimationen von George Méliès (1861 – 1938). Historische Entwicklungsstränge sind mit den Bewegungen wie dem Futurismus, Dadaismus, konkreter Poesie, den Cut-ups seit den 1950er Jahren wie die von William S. Burroughs (1914 – 1997), oder Videoarbeiten wie denen von Barbara Kruger (*1945) seit den 1960er Jahren verbunden. Seit den 1990er Jahren sind Sehtexte als Textprojektionen im öffentlichen Raum – wie die von Jenny Holzer (*1950) – präsent, Hartung Trenz gehören zu den Pionieren in Europa. Bis heute ist die visuelle Poesie ein experimentell-forschendes Genre, das sich im Spannungsfeld von Sprache, Gestaltung, Bildender Kunst und Technologie immer wieder neu erfindet.

IM TUN

Vor Ort ist einer der spannendsten Momente der, indem sich entscheidet wie gut der konkrete Raum und das im Atelier vorbereitete Textgewebe miteinander korrespondieren. Dazu müssen das technische Material, das die Künstler mitbringen, und die Technik, die am Interventionsorts bereitgestellt werden, nahtlos miteinander verknüpft werden. Die Kompatibilität von Computern und Mediaplayern, die Positionen der Projektoren und die Distanzen, Lichtstärke und Leuchtdichte, Absorptions- und Reflexionsverhalten, Wegeverbindungen und Betrachtungsstandpunkte sind technische ebenso wie künstlerische Fragestellungen. „Trotz guter Vorbereitung und trotz unserer langjährigen Erfahrung stehen wir hier immer wieder vor Herausforderungen, mit denen wir nicht gerechnet haben“, berichten Hartung Trenz während des Aufbaus im Schafhof. Mit außerordentlicher Geduld und unerbittlicher Ambition gelingt es ihnen immer, technische Bedingungen und künstlerischen Anspruch zu synchronisieren.

Von der Idee bis zur Vorbereitung der technischen Umsetzung arbeiten sie an jedem Projekt etwa vier bis sechs Wochen. Aktuell realisieren sie bis 10 Projekte pro Jahr, die meisten davon in Deutschland, ein Teil im Europäischen Ausland, manche auch in Afrika, Australien oder Nord-Amerika. Sie haben mit dem Schloss Bellevue in Berlin gearbeitet und sie haben zu den Passionsspielen in Oberammergau beigetragen. Sie haben den Kölner Dom bespielt und sie haben die erste künstlerische Intervention für die Zitouna Moschee in Tunis realisiert. Sie sind gern gesehene Gäste bei den Europäischen Festivals des Lichts ebenso wie in Kunstmuseen.
 

GOLDSTÜCKE Gelsenkirchen 2022. Photos: Jennifer Braun

AM ORT

Architektur und Stadtlandschaften, Denkmale und Kirchen, Gärten und Parks gehören zu ihren Spielstätten. In der Vorbereitung vermessen sie Räume, sondieren Atmosphären und erkunden Wirkkräfte. Der vorgefundene Raum wird zum Wurzelwerk für ihre Intervention. “Wir gehen immer von den Raum aus, den wir vorfinden, und wir sprechen mit den Menschen, die mit ihm leben. Dann suchen wir nach Textmaterial, das mit unseren Assoziationen korrespondiert, und dann fangen wir an Verbindungen zu komponieren”, beschreiben Hartung Trenz ihren Arbeitsprozess.

Ihre leuchtenden Schriftbilder zeigen den Raum und verteilen sich über alle Oberflächen. In der Projektion werden die Texte zu Hypertexten, d.h. sie bilden ein Netz aus Bild-, Raum-, Text- und Dateneinheiten mit wechselseitigen Verweisen. Das Bildwerk wird zum Erlebnisraum, in dem das Auge, die Erfahrung und das Bewusstsein der Betrachtenden ein eigenständiges Bildgeschehen erzeugen. In dem Zusammenspiel von Architektur und Projektion, von Grafik und Animation, von dem Lauf der Lichtbilder und dem Fluss der Wahrnehmung entsteht eine künstlerische Situation, die als das Original des Kunstwerkes gelesen werden kann.

Bei ihren Werken handelt es sich nicht um ein sogenanntes „Projection Mapping“, für das der analoge Ort zum Interface zwischen der materiellen und virtuellen Situation wird. Es geht nicht um ein Überschreiben, sondern eher um ein Eindringen oder Einschreiben. Die analoge Oberfläche und das projizierte Bild vervollständigen einander. Hartung Trenz schaffen ästhetische Situationen, in denen eine symbiotische Beziehung zwischen dem Raum, der Projektion und der Wahrnehmungssituation entsteht.

UNI VERS

Hartung Trenz arbeiten fast immer mit der von Adrian Frutiger (1928 – 2015) entworfenen „Univers“ (1957). Dass diese sich auch für die Projektion eignet, überrascht nicht, wenn man weiß, dass Adrian Frutiger in der Schriftgestaltung das Medium Licht mitdachte: “Wenn ich auf einem weißen Blatt die Feder ansetze, so gibt man nicht Schwarz hinzu, sondern man nimmt dem weißen Blatt Licht weg. (…) So verstand ich auch, dass das Wichtigste an der Schrift die Zwischenräume sind”, beschreibt der Typograph seine Herangehensweise. In der Projektionen wird dieser konzeptionelle Aspekt sichtbar. Hartung Trenz invertieren das Konstruktionsprinzip und zeigen „schwarz“ als weißes Licht und die weißen Zwischenräume werden „schwarz“. In der Projektion zeigt weißes Licht, worauf es fällt, während schwarzes den Projektionsgrund verschattet. Dies ermöglicht, dass in der Projektion der Raum im Rahmen der typografischen Konturen sichtbar wird, und dass die Zwischenräumen zurücktreten. Die typografische Ordnung fungiert wie ein Filtersystem.

VOR HER

Erstmals waren Hartung Trenz 2015 zu Gast in Freising. Die Tandem-Arbeit verband den Freisinger Dom auf dem 12. Jahrhundert mit dem im 21. Jahrhundert rekonstruierten Tonnengewölbe im Schafhof. „Coincidence“ – zu Deutsch: Koinzidenz; aus dem Lateinisch „con“ für gemeinsam, und „incidere“ für vorfallen, meint ein zeitliches und/oder räumliches Zusammenfallen von Ereignissen oder Zusammentreffen von Objekten – war der Titel der Arbeit. Die Dokumentationen der beiden Intervention sind auch Teil der aktuellen Ausstellung im Schafhof.

DOC

Da überwiegende Teil ihrer Interventionen sind temporär, sie werden manchmal nur für wenige Tage, manchmal für mehrere Wochen aufgebaut. Die umfassende Dokumentation der Interventionen von Hartung Trenz ist eine Form der Archivierung. Damit lassen sich Ausstellungsprojekte und künstlerische Entwicklungen auch nach der Ausstellungszeit nachvollziehen. Zugleich sind detailreiche Werkverzeichnisse eine wichtige Grundlage für kunsthistorische und andere Forschung.

Die Realisierung des größten Teils ihrer Projekte entsteht erst wenige Tage vor Ausstellungseröffnung vor Ort. Oft gibt es vorab keinen Test, und immer funktioniert das Zusammenspiel von Projektion, Raum und Kubatur wie im Rechner angelegt. Nicht selten aber gibt es viele überraschende Momente, die das theoretische Konzept übertreffen und zu einem ganz eignen, noch-nicht gesehenem Bildgeschehen führen. Ohne profunde Dokumentation würden diese Momente nicht aufgespürt werden.

Außergewöhnlich ist es, dass es die Künstler selbst sind, die ihre Installationen und Interventionen dokumentieren. Damit bildet das künstlerische Konzept zugleich auch den Rahmen für die Dokumentation und zeigt die Perspektive und die Aspekte, die für Hartung Trenz von besonderem Interesse sind. Sie fotografieren und filmen, sie kontrollieren und schneiden das Bildmaterial, dass sie während der Laufzeiten ihrer Interventionen aufnehmen. In ihrer künstlerischen Praxis ist die Dokumentation Teil ihrer internen Evaluation der Projekte: Eher technische Aspekte wie Maßgenauigkeit oder Kontrasttiefe, oder aber die Beobachtung des performativen Zusammenspiels von Ort und Projektion sind Teil des gemeinsamen Betrachtens und Beurteilens der beiden Künstler.

Im Rahmen der aktuellen Ausstellung ist eine Auswahl von Foto- und Videodokumentationen zu sehen, darunter die Arbeiten am Schloss Bellevue in Berlin und am Kölner Dom. Die Auswahl stammt von den Künstlern, sie zeigen die Arbeiten, die für ihren Werdegang von Bedeutung sind.

LUX ORT

Für die Installation LIGHTSCAPE (Celle 2013) wird der Text „Lightscape“ in einem digital animierten, fluiden Prozess kontinuierlich neu formatiert: Aus einer zweidimensionalen Rosette aus ringförmigen Buchstabenanordnungen werden horizontale Linien, die sich wie Längenmeridiane um eine imaginäre Kugel legen. Diese verändern und shiften kontinuierlich, die Projektion loopt im Unendlichkeitsmodus.

In der 2-Kanal Video Installation LIGHTSCAPE – zu Deutsch: Lichtsituation, Lichtlandschaft, Lichtstimmung – liegen zwei Projektionsflächen deckungsgleich übereinander. Durch Eintritt in den Projektionsstrahl können die Besucher_innen die beiden Textfelder voneinander trennen.

END LOS

Für 1-Kanal Videoinstallation WHERE IS MY DESTINY (Köln 2020) nutzen Hartung Trenz das Unendlichkeitszeichen als Partikel eines fluiden Bilduniversums, das sich in einem ständigen Modus von Transition von vereinzelt und gehäuft, geordnet und ungeordnet befindet. Aus dem Nichts formt sich ein Cluster, aus dem Cluster bildet sich eine bewegte Struktur, die Struktur verdichtet sich zu einer Form, die dann wieder zerfällt.

Photos: Hartung Trenz

WIE DIE KUH AUF DAS EIS KAM

Für die ortspezifischen Kunstintervention LEAVES haben sie lange gesammelt, mehr als 7.000 Worte und Begriffe mit 3 Buchstaben sind das Rohmaterial für die Projektion in dem Garten des Schafhofes. „Wir waren auf der Suche nach kurzen Worten, mit nur wenigen Buchstaben, um mit kleinen, blattähnlichen Formen arbeiten zu können“, erzählen Hartung Trenz über die Vorbereitung, „wir wollten kleine Textelemente, die sich – wie Blätter – aufwirbeln oder aufhäufeln lassen“. Jedes einzelne Wort ist typografisch gesetzt und anschließend organisch verformt, die typografischen Geometrien wurden gedehnt, verdreht, gespiegelt. Erst dann wurden sie gesetzt, gruppiert und gehäuft, zu einem „Textum“ – einem Geflecht oder Gewebe.

Für die analoge Projektion wurden diese Texte auf 10 Gobos – kleinen Glasscheiben, ähnlich zu Kleinbilddias – verdichtet und mit Hilfe von LED-basierten Projektoren – in diesem Fall Phos 85 outdoor von Derksen – auf Garten und Gebäude appliziert. So weit wie der 5.000 lm Projektionsstrahl reicht, werden die Buchstaben und Worte in den Garten geworfen. Beim Blick aus dem Fenster sieht man, wie sie sich auf Wiesen, Geäst und Baumgerippen anlagern. Vom Garten aus, beim Blick zurück, zeigt sich, dass auch die rückseitige Fassade mit leuchtendem Text belegt ist. „Auch für uns ist die Umweltthematik in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Eine Installation wie LEAVES im Schafhof können wir nur umsetzen, weil im Winter die Bäume blattlos sind und weil keine Vögel brüten“; sagt Detlef Hartung, „… mit dem Titel der Arbeit LEAVES assoziieren wir nicht nur die Blätter, sondern auch das Moment des Verlassens und der Winterruhe.“

Die ortspezifische Intervention schafft einen Bildzusammenhang für den Schafhof als Teil eines ökologischen Habitats. Eingebettet in Wiesen und Weiden, umgeben von Baumgruppen liegt der Schafhof am nördlichen Stadtrand von Freising. Er wurde 1819/1820 als Stall für eine Merinoschafherde errichtet. Seit 2005 fungiert der Schafhof als Europäisches Kunstforum Oberbayern. Die Zusammenspiel von Architektur und Landschaft prägt bis heute das Leben und Arbeiten auf dem Schafhof und inspiriert Künstler_innen zu außergewöhnlichen Arbeiten – wie jetzt Hartung Trenz.

LINKS

hartung-trenz.de
schafhof-kunstforum.de

WEITERE TEXTE

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