Einführung der Eröffnung des Kunst-im-Kontext Projektes “Ringen” von Hartung | Trenz in der Christ-König Kunstkirche Bochum im Rahmen des Jahresthema BEZIEHUNGEN. … Ich kenne Hartung und Trenz seit etwa 10 Jahren und etwa genauso lange arbeiten wir zusammen, d.h. ich lade sie zu Ausstellungsprojekten ein und manchmal laden sie mich zu Ausstellungsprojekten ein. Als freie Künstler und als freie Kuratorin sind wir immer auf der Suche nach einem interessanten Ort oder einer guten Gelegenheit, um künstlerische Forschung und philosophische Praxis fortzusetzen.

Hartung und Trenz kennen sich aus dem Studium und arbeiten seit 1998 zusammen. Ich kenne noch die ersten Arbeiten, in denen sie mit unzähligen Diaprojektoren arbeiteten; ich war dabei, als sie die erste animierte Projektion entwickelten und auch wie sie die erste Arbeit mit Zahlen statt mit Buchstaben realisierten. Über die Jahre ist eine enge Zusammenarbeit entstanden. Wir sehen uns häufig und wir mögen uns sehr – in diesem Sinne: ich habe mich auch über die Einladung sehr gefreut.


Hartung | Trenz: Ringen. Christkönig Kunstkirche Bochum 2017. Video: Detlef Hartung.

Bis vor zwei Wochen gab es hier die Arbeiten des Bochumer Künstlers Klaus Nixdorf zu sehen: Spiegelungen – sechs Wochen waren es Zeit und Raum, Licht und Farbe, Bewegungen und Handlungen, die sich als Reflexionen durch den Raum bewegten. Was zu sehen war, hing vom Standpunkt und Blickwinkel der Betrachtenden ab und der scheinbar leere Raum wurde zu einem dynamischen Beziehungsgefüge mit einer unendlichen Zahl von Kreuzungspunkten.

Auch Hartung und Trenz arbeiten mit einem System aus Spiegeln, das sie zur Projektion benutzen. In ihrem Fall wird der Lichtstrahl durch eine Anordnung von beweglichen Mikrospiegeln in Pixel zerlegt und dann – pixelweise – entweder in den Projektionsweg hinein oder heraus reflektiert. Die Technik, die sie verwenden, benutzt dichroitische Spiegel. Dichroitische Folien oder Filter sind Prismen, die weißes Licht spalten und auf bestimmte Farbfrequenzen begrenzen können. Die zwei LCD Projektoren, die hier im Einsatz sind, verwenden für jede Farbe eine Matrize, die durch das Projektionssystem zu einem Bild zusammengefügt wird. LCD Projektoren, abgekürzt für „liquid cristal displays“, in der deutschen Übersetzung sind es „Flüssigkristallanzeigen“, funktionieren im Prinzip wie Diaprojektoren. Anstelle eines Dias kommen eine oder mehrere transparente Flüssigkristallanzeigen zum Einsatz, die von Dünnfilmtransistoren angesteuert werden. Aber vielleicht ist das alles viel zu technisch?

Die beiden Installationen – die von Klaus Nixdorf und die von Hartung und Trenz – stehen also nicht nur in zeitlicher Beziehung zu einander. Sie nutzen den selben Raum und das gleiche Material – Spiegel und Reflexionswinkel, Interieur und Aktion, Gestalt und Bild werden zum Material der Kunst und thematisieren das komplexe Gefüge, in dem wir – die Betrachenden – uns bewegen. Diese Betrachtungsweise setzt auf uns. Sie bezieht uns mit ein. Beide Installationen sind raumbezogene Kompositionen, die unterschiedliche Blickwinkeln anbieten und eine Vielzahl von Einblicken und Einsichten zulassen.

Die Künstler Detlef Hartung und Georg Trenz gehören seit über 20 Jahren zu denen, die das Verhältnis von Raum zu Licht ausloten. Ausgangspunkt für ihre Raum- und Architekturprojektionen sind vorgefundene Orte wie dieser Kirchenraum hier. Sie erkunden und vermessen Räume und Interieurs, sondieren Atmosphären und Wirkkräfte. Im Spannungsfeld von Analyse und Assoziation entwickeln sie Textmaterial als grafische Geflechte, projizieren sie und betrachten das Spiel von Farben, Formen und Sehzusammenhängen, das sich einstellt. Es entstehen typografische Versuchsanordnungen ebenso wie Assoziationsräume, die auf die Zeichenhaftigkeit der Dinge verweisen. Im Wechselspiel des Sichtbaren und des Unsichtbaren reorganisieren sie die Zusammenhänge von Wahrnehmungs- und Bedeutungsebenen. Ihre Leinwand ist weder weiß noch schwarz, sondern die Welt und ihre Patina. Sie blenden aus und ein, sie be- und hinterleuchten, sie experimentieren mit der Wahrnehmung und spielen mit der Vorstellung.

Ich möchte Sie jetzt bitten, für einen Moment die Augen zu schließen: Stellen Sie sich vor, ihre Blicke würden aufgezeichnet und ihre Sehwege von einer Linie nachgezeichnet. Versuchen Sie ihre letzten Blickrichtungen zu erinnern. Bitte halten Sie Ihre Augen weiter geschlossen und fügen Sie in ihrer Vorstellung die Sehlinien der anderen hinzu. Es entsteht ein Gewirr, das zu einer Matrix wird, zu der der Betrachtenden. Diese geht mit einer anderen Matrix, die die Künstler in den Raum werfen, einen Dialog ein. Bitte öffnen Sie die Augen wieder und versuchen, Ihre Vorstellung und das, was Sie hier im Raum sehen, übereinander zu legen. So in etwa denken Detlef Hartung und Georg Trenz, wenn sie eine neue orts- und kontext-spezifische Intervention entwickeln. Sie interessiert der Dialog mit dem Ort und seiner Architektur, seine Funktion und Nutzung und die Assoziationen, die mit ihm verbunden sind. Sie erkunden Bilder und Gedanken, solche, die schon existieren oder naheliegen ebenso wie solche die den Raum als kohärenten auflösen. Sie dekonstruieren ebenso gern wie sie konstruieren.

In den künstlerischen Fragestellungen von Hartung und Trenz geht es um Komplexität, aber nicht um Überforderung, auch nicht um Täuschung oder Illusion, sondern um die Verlässlichkeit dessen, was wir als Wirklichkeit betrachten. Hartung und Trenz gehen in ihren Arbeiten der Frage nach wie Wahrnehmen und Verstehen, Erkennen und Interpretieren zusammenhängen. Ihr künstlerischer Freiraum besteht darin zu fragen, ob wir sicher sind, dass das was wir sehen, auch das ist, wofür wir es halten.

Die Wahrnehmung einer Form als zusammenhängende – als kohärente – ist ein interessanter Aspekt der Neurowissenschaft. Die Fähigkeit die äußeren Gestalt von Objekten trotz unterschiedlicher Repräsentation (Verdeckungen, perspektivische Verzerrung u.a.) zu erkennen, Nebensächliches zu abstrahieren und allgemeine Eigenschaften herauszuheben, ist für Tiere und Menschen überlebensnotwendig – insbesondere, wenn es darum geht, Freund oder potentiellen Partner und Feind oder potentiellen Gegner unter den verschiedensten Bedingungen zu erkennen und zu differenzieren.

Die Gestaltwahrnehmung zieht Schlüsse aufgrund von Annahmen, die ihr bereits als biologisches Programm vorgegeben sind und wird laufend ergänzt durch Erfahrung. Die Figur-Hintergrundtrennung oder das Problem von Teil und Ganzem sind Beispiele für die Gestaltgesetze, die unsere Wahrnehmung ordnen und strukturieren. Es werden Merkmale wie Kollinearität und Parallelität, gleiche oder verschiedene Geschwindigkeit, Richtung, Tiefe und Textur der Objekte genutzt, um dessen Gestalt auszuloten. Gestaltwahrnehmung wird über corticale Mechanismen erzeugt, bei denen die kooperative Tätigkeit von Neuronengruppen in einem räumlichen Bezug zu Aktivität – d.h. Wahrnehmen und Erkennen – führt. Das kann auch dazu führen, dass das Auftreten bestimmter Merkmalsgruppen als ein Objekt gedeutet werden, das real nicht vorhanden ist. Wo solche Täuschungen auftreten, können sie durch Messung und Betrachtung aus anderen Gesichtswinkeln aufgeklärt werden. Das kommt uns an dieser Stelle schon bekannt vor – auch die räumliche Anordnung von Hartung und Trenz setzt auf verschiedene Blickwinkel und verschiedene Perspektiven, die einander bedürfen, um zu Erkenntnissen zu gelangen.

Der Ausgangspunkt der kontext-spezifischen Konzepte von Hartung und Trenz sind Formen und Strukturen, die zu den maßgeblichen eines Raums gehören. Damit ist die architektonische Kubatur ebenso gemeint wie das Interieur, das einen Ort bestimmt. In dieser Arbeit hier sehen wir, dass sich Hartung und Trenz der Dornenkrone im Altarraum und dem gegenüberliegenden runden Kirchenfenster als zentralem Motiv bedienen. In ihrer Verortung, in ihrer Form und in ihrer Funktion werten sie sie als zentral für den Raum und dessen Erfahrung. Sie sind Ausgangs- und Ankerpunkt der Projektion. Von ihnen leitet sich die Kreisform der Buchstabenanordnungen ab, die in Ableitungen und Varianten die Textstruktur prägen.

Buchstaben erscheinen im Raum, sie kreisen um die Skulptur und um die farbenfrohe Rosette. Sie sind ein Konvolut aus einem Text. Er handelt vom Warten. Warten ist ein deutsches Verb: zu Warte im Mittelhochdeutsch meint den Ort des Ausschau-haltens, im Althochdeutschen meint wartēn „ausschauen, aufpassen, erwarten“. Wenn ICH warten muss, habe ich sehr schnell das Gefühl, dass mir jemand die Zeit stiehlt, dass mir etwas entgeht und das ich nicht effektiv bin. Warten zu müssen ist eine echte Mühe. Dass es vielleicht auch ein entspannter Moment sein kann, kommt mir meist nur in den Sinn, wenn ich am Schreibtisch Texte wie diesen hier verfasse, nicht aber in der Situation, in der ich zum Warten gezwungen bin.

Der Text, den sie sich ausgesucht haben, entstand 1953 und stammt von Bertolt Brecht, vielleicht kennen Sie das Motiv des Radwechsels:

Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
mit Ungeduld?

Es ist eine Einladung zum Verweilen und zum Nachdenken, zum Flanieren mit den Augen und den Ohren und allen Sinnen. Es geht um die Zumutung und die Möglichkeit. Und es geht um die Zeit zum Reflektieren. Reflektieren ist einer der vielen Begriffe, die sich aus der Lichtmetapher ableiten. Hartung und Trenz verwenden Licht und seine Reflektionen auf der physikalischen und technischen Ebene in einem Projektionssystem. Sie nutzen sie auf der Wahrnehmungsebene und sie integrieren auch ihre metaphorische Dimension. Um die Bedeutung von Licht als Metapher zu verstehen, müssen wir für einen Moment 2.500 Jahre in die Vergangenheit reisen – in die griechische Antike zu Platon.

Der Philosoph Platon (*428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; † 348/347 v. Chr. in Athen) war ein Schüler des Sokrates, dessen Denken und Methode er in vielen seiner Werke schilderte. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen und die Originalität seiner Leistungen als Denker und Schriftsteller machten ihn zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte. In der Metaphysik und Erkenntnistheorie, in der Ethik, Anthropologie, Staatstheorie, Kosmologie, Kunsttheorie und Sprachphilosophie setzte er Maßstäbe auch für diejenigen, die ihm – wie sein Schüler Aristoteles – in zentralen Fragen widersprachen.

Das erste der drei bekanntesten Gleichnisse Platons aus seinem Werk Politeia ist das Sonnengleichnis (Platon, Politeia 508a-509d). Platon beschreibt dort den Stellenwert des Guten und legt damit den Grundstein für die Metaphysik. Am Ende des sechsten Buches der Politeia folgt dem Sonnengleichnis das Liniengleichnis, welches in das Höhlengleichnis am Anfang des siebten Buches mündet. Die Gleichnisse bauen aufeinander auf. Im Sonnengleichnis führt Platon aus, dass sich der Gesichtssinn vom Gehör und den anderen Sinnen dadurch unterscheidet, dass er mit seinen Objekten nicht im unmittelbaren Kontakt ist, sondern eines Mediums, dem des Lichts, bedarf. Und wie im Bereich des Sichtbaren die Sonne als Quelle des Lichts die alles beherrschende Macht sei, so sei in der geistigen Welt das Gute die Quelle von Wahrheit und Wissen. Die sonnengleiche Stellung, die Platon dem höchsten Guten in der intelligiblen Welt beimisst, verleiht ihm göttliche Würde. Im „Symposion“ schreibt Platon über Sokrates und das Licht:

„Nämlich in tiefes Nachdenken über irgendeinen Gegenstand versenkt, blieb er (Sokrates) von frühmorgens an auf demselben Flecke stehen und wich, da er das Gesuchte nicht finden konnte, nicht von der Stelle, sondern verharrte in unablässigem Nachsinnen. Inzwischen war es bereits mittags geworden, als die Leute es merkten und staunend einander darauf aufmerksam machten, dass Sokrates nun schon vom frühen Morgen her im Nachforschen über irgendeinen Gegenstand begriffen dastände. Endlich aber, als es schon Abend war, brachten einige Ionier, nachdem sie zu Abend gegessen, ihre Matratzen heraus, teils um im Kühlen zu schlafen, denn es geschah dies im Sommer, teils aber auch um ihn zu beobachten, ob er auch wohl in der Nacht dort stehenbleiben würde. Er aber blieb wirklich stehen, bis der Morgen graute und die Sonne aufging; dann aber ging er von dannen, nachdem er zuvor noch sein Morgengebet an die Sonne (hêlios) verrichtet hatte.“ (Platon, Symposion 220d) Es ist eine schöne Geschichte, die nicht nur von der Lichtmetapher, sondern auch vom Warten handelt. Und es handelt von dem Ringen um Erkenntnis. Bis heute leistet die Lichtmetapher der Metaphysik gute Dienste, wenn es darum geht, gegenständlich nicht mehr Fassbarem eine Referenz oder einen Verweis anzubieten.

Beleuchten, erhellen, aufklären und reflektieren im Sinne von nachgehen, verstehen und überdenken sind Begriffe, die sich durch unsere Kultur- und Philosophiegeschichte ziehen und die in unserem alltäglichen Sprachgebrauch fest verankert sind. Sprache und ihre Bilder wurzeln in Geschichte und Erfahrung und sind Teil der Identität – der zusammenhängenden Gestalt – mit der wir uns durch die Welt bewegen. Hartung und Trenz lösen Text und seine Erscheinungsformen aus den vertrauten Formen und bieten uns eine unendliche große Menge an Bildwerken an. In der Betrachtung ergänzen wir sie mit dem was wir wissen und denken. Es entsteht ein Konvolut an Beziehungen, denen wir mit Ungeduld sicher nicht gerecht werden können. Ich möchte Sie bitten, nehmen Sie sich Zeit zum Sehen und Denken und zum Besprechen. Sprache und Kunst, Kommunikationssysteme und Identität sind Teil kollektiver Übereinkünfte, die immer mal wieder zu überdacht und überprüft werden müssen.

Ihre Texturen spielen mit dem gesamten typografischen Spektrum – es gibt weder Lese- noch Betrachtungsvorgaben, die Grammatik des Textes wird in ein visuelles System übertragen. Erinnert man sich, dass der Begriff „Zeichen“ im indogermanischen Wort „die“ wurzelt, das für „glänzen, schimmern oder scheinen“ steht sowie im Althochdeutschen für „Zeichen, Bild, Wunder“, lassen sich die leuchtenden Texturen auch als Nachdenken über das Verhältnis von Sprache und Schrift lesen.

Dass die von Hartung und Trenz gewählte Typo „Univers“ sich auch für die Projektion eignet, überrascht nicht, wenn man weiß, dass Adrian Frutiger in der Schriftgestaltung das Medium Licht mitdachte: “Wenn ich auf einem weißen Blatt die Feder ansetze, so gibt man nicht Schwarz hinzu, sondern man nimmt dem weißen Blatt Licht weg. (…) So verstand ich auch, dass das Wichtigste an der Schrift die Zwischenräume sind”, beschreibt er seine Herangehensweise. In der Projektionen wird dieser konzeptionelle Aspekt sichtbar und verbindet sich mit den künstlerischen Intentionen von Hartung und Trenz. Sie invertieren das Konstruktionsprinzip und zeigen das Schwarz der Farbe als weißes Licht.

Sie projizieren ein Schriftbild in einen Raum, es zerbricht an ihm und formatiert sich neu. Die Texte bilden ein Netz aus Bild-, Raum-, Text- und Dateneinheiten und wechselseitigen Verweisen. Hartung und Trenz pflegen diese Vorliebe für unsystematisches Lesen auf der Suche nach Möglichkeitsräumen des Sehens und Denkens. Mit einer ihnen eigenen Beharrlichkeit fragen sie nach dem Wie und Wo und Warum von Sprache und Schrift. Ihre Arbeiten sind eine Art Rechenschaftsberichte, die ihren Prozess des Sehens, Denkens und Ausdrückens dokumentieren. Sie selbst sind Wahrnehmungsspezialisten, die das, was sie sehen, verarbeiten und – um es nicht bei der subjektiven Erfahrung zu belassen – als kollektives Ereignis inszenieren. Herzlichen Dank an Sie, die Sie dieser Einladung gefolgt sind. Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Interesse ist das Feedback, auf das die Künstler warten.

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